Vor wenigen Wochen gab der deutsche KI-Pionier Jürgen Schmidhuber (ehem. TU München, derzeit tätig an der König-Abdullah-Universität für Wissenschaft und Technologie in Saudi-Arabien) der Süddeutschen Zeitung ein Interview.1Vgl. Schmidhuber, Jürgen, Interview v. 5./6. August 2023, in: Süddeutsche Zeitung 79 (2023) Nr. 179, 17. Wie bereits viele Protagonisten der KI-Szene vor ihm ergeht er sich im Laufe des Interviews – im Mantel der seriösen KI-Forschung und Wissenschaftlichkeit – in Visionen, die bestenfalls als Science Fiction, spätestens mit seinem sinnentstellenden Bezug auf den jesuitischen Theologen Pierre Teilhard de Chardin als pseudoreligiös bezeichnet werden müssen.
Schmidhubers Ideen sind dabei nicht neu: Sie finden sich fast wörtlich bereits 1999 bzw. 2005 bei den selbsternannten Futuristen Hans Moravec2Vgl. Moravec, Hans P., Robot. Mere Machine to Transcendent Mind, New York 1999. und Ray Kurzweil.3Vgl. Kurzweil, Ray, The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005. Im Folgenden möchte ich darlegen, warum sie mit seriöser Wissenschaft weniger zu tun haben als mit einer Ersatzreligion für ein vermeintlich postreligiöses Zeitalter. Interessant dabei ist, dass sowohl Kurzweil, Moravec als auch Schmidhuber klassischen Formen der Religiosität kritisch bis ablehnend gegenüberstehen4Vgl. Kurzweil, Singularity, 1: „We would spend six months studying one religion – going to its services, reading its books, having dialogues with its leaders – and then move on to the next. The theme was ‘many paths to the truth’.“ sowie Moravec, Robot, 191: „Other belief systems may have social utility for the groups that practice them, but ultimately they are just made-up stories. I myself am partial to such ‘physical fundamentalism.’“ sowie Schmidhuber, In the beginning was code, Vortrag v. 10. November 2012, zu finden unter: https://www.thekurzweillibrary.com/in-the-beginning-was-the-code, abgerufen am 26. August 2023., sich aber dennoch – möglicherweise unbewusst – hochgradig religiöser Topoi bedienen.
Gott, die Singularität und der Punkt Omega
Schmidhuber glaubt, dass Maschinen lernfähig und sich, unkontrolliert vom Menschen, selbst weiterentwickeln werden. Diesen Punkt, den Kurzweil als Singularität bezeichnet,5Vgl. Kurzweil, Singularity, 22f. nennt er unter Berufung auf Teilhard de Chardin den Omegapunkt.6Vgl. Schmidhuber, Interview. Auch Moravec spricht unter Bezugnahme auf Teilhard de Chardin vom Punkt Omega, allerdings meint er damit den Zeitpunkt, ab dem die sich selbst ausbreitende Künstliche Intelligenz das gesamte Universum bevölkert habe und so zu einem allumfassenden „cosmic mind“ werde.7Vgl. Moravec, Robot, 202.
Wie Kurzweil und Moravec sieht Schmidhuber den technologischen Fortschritt als Teil einer umfassenden exponentiellen Entwicklung seit Anbeginn des Universums an. Die Ereignisse, die er dafür als Beleg nennt, wirken allerdings wie schon bei Kurzweil hochgradig eklektisch und arbiträr.8Vgl. Schmidhuber, Interview sowie Kurzweil, Singularity, 17. Wie Kurzweil und Moravec prophezeit Schmidhuber eine sich selbstständig im Universum ausbreitende KI:
„Interessant wird es, sobald sie sich physikalisch selbst replizieren können. Wenn zum Beispiel auf dem Merkur ein solargetriebener 3-D-Drucker sich mit anderen zusammenschließt und sie all die Teile drucken können, aus denen sie bestehen, und auch die Teile, aus denen die Roboter bestehen, die die entsprechenden Rohstoffe einholen und die gedruckten Teile zusammenbasteln, sodass die gesamte Maschinengesellschaft sich selbst kopieren kann. Dann hat man zum ersten Mal eine neue Sorte von Leben, die nichts mit Biologie zu tun hat und sich trotzdem vervielfältigen kann. Und sich rasch verbessern kann in einer Weise, die traditionellem Leben verwehrt ist. Das wird kommen, und das Tolle daran ist, dass der gigantische Weltenraum solchen Systemen einen bisher unerschlossenen Lebensraum bietet, der unermesslich groß ist im Vergleich zur winzigen Biosphäre.“9Schmidhuber, Interview.
Auch Kurzweil teilt diese Idee: „Ultimately, the entire universe will become saturated with our intelligence. This is the destiny of the universe“.10Vgl. Kurzweil, Singularity, 29. Er geht sogar so weit, das Universum mit Gott zu identifizieren: Sobald es mit künstlicher Intelligenz saturiert sei, werde es „erwachen“ – wir selbst sind es ihm zufolge also, die gerade Gott erschaffen.11Vgl. ebd., 390: „We can consider God to be the universe. […] The universe is not conscious – yet. But it will be“.
Teilhard de Chardins Omegapunkt
Liest man bei Teilhard de Chardin nach, so wird deutlich, dass Schmidhubers und Moravecs Gebrauch des von ihm geprägten Begriffs Omegapunkt eine absurde Verzerrung seiner ursprünglichen Idee darstellt. In seinem Werk Der Mensch im Kosmos versucht er, Naturwissenschaft und christliche Theologie zu versöhnen, indem er Kosmogenese und Evolution als Teil der göttlichen Schöpfung beschreibt. Als Punkt Omega bezeichnet er dabei das Ziel der Schöpfung, auf den hin sich alles ausrichtet. Diesen Punkt identifiziert er mit Jesus Christus, dessen Liebe den Kosmos in Freiheit zu seinem Ziel, einem Höchstmaß von Komplexität und Bewusstsein, führt.12Vgl. Teilhard de Chardin, Pierre, Der Mensch im Kosmos, München 71964, 250-267.
Im Gegensatz zu Moravec und Schmidhuber sieht Teilhard de Chardin den Omegapunkt als transzendent und personal – weil sich das Universum zu diesem Punkt hin entwickelt, muss er bereits vor dem Universum existieren. Er beklagt ausdrücklich das Verlangen des modernen Menschen, „das, was er am meisten bewundert, zu entpersönlichen“. Dieses Verlangen sieht er im Instrument der Analyse, welches von der wissenschaftliche Forschung angewandt wird und das die Wirklichkeit in immer kleinere Einzelteile zerlegt, begründet. „Eine einzige Realität scheint übrigzubleiben […]: die Energie – der neue Geist. Die Energie – der neue Gott. Das Unpersönliche für das Omega der Welt wie für ihr Alpha.“13Vgl. ebd., 251. Er wendet sich also genau gegen den Reduktionismus, den Moravec und Schmidhuber Jahrzehnte später in seinem Namen betreiben.
Ersatzreligion Singularität
Wenn man den Menschen als homo religiosus betrachtet und vom Vorhandensein von Religion bei allen Völkern aller Zeiten ausgeht,14Vgl. Feil, Ernst, Religion I, in: Betz, Hans Dieter u.a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart4. Bd. 7 R–S, Tübingen 2004, 263-267, 264. verwundert es nicht, dass im gleichen Maß, in dem traditionelle Religionen an Bedeutung verlieren, Ersatzreligionen entstehen. Auch wenn der Versuch, einen allgemein akzeptierten Begriff von „Religion“ klar zu definieren, angesichts der Pluralität religiöser Auffassungen schwierig bis unmöglich ist,15Vgl. ebd., 265. gibt es doch Elemente, die auf Religion und Religiosität allgemein zutreffen und die sich bei Schmidhuber, Kurzweil und Moravec wiederfinden. Religion vermittelt ein Gefühl für das Unendliche, für Transzendenz, im weitesten Sinne für Gott. Sie vermittelt eine Orientierung in der Lebenswelt, indem sie Erklärungsmodelle für die Zusammenhänge der Lebenswelt anbietet und dem Menschen eine Funktion in dieser Welt zu geben vermag.16Vgl. ebd., 264. Ein weiterer Aspekt von Religion ist der der Abgrenzung des Sakralen gegenüber dem Profanen17Vgl. Bürkle, Horst, Religion. III. Religionswissenschaftlich, in: Kasper, Walter u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche3, Vol. 8 Pearson–Samuel, Freiburg i. Br. 1999, 1039-1041, 1040. oder eine Vorstellung der Erlösung von Leid und Tod.18Vgl. Kornwachs, Klaus, Prothese, Diener, Ebenbild. Warum sollen wir denkende Maschinen bauen? In: Herder Korrespondenz 56 (2002) 402-407, 406. Einige Religionsformen entwickeln fundamentalistischen Charakter – und fundamentalistische Elemente lassen sich auch bei Kurzweil und Moravec nachweisen.
Für sich genommen bilden all diese Elemente noch keine Religion – dafür müssten sie zu einer konzeptionell und philosophisch geschlosseneren Einheit verwachsen. Doch wie der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme bemerkt, ist es ein Charakteristikum der Nach-Aufklärung, einzelne religiöse Motive aus ihrer theologischen und institutionellen Bindung herauszubrechen: „[S]ie bilden keine Diskurse, sondern den bebenden Sockel der scheinbar religionsfreien Techniken. Dies ist die Religionsform nach dem Tode Gottes.“19Böhme, Hartmut, Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikationen von Cyberspace, in: Neue Zürcher Zeitung 217 (1996) No. 86, 13/14 April 1996, 53. Vor diesem Hintergrund von Vorstellungen wie Singularität und starker KI20 „Starke KI“ bezeichnet – im Gegensatz zu „schwacher KI“ – die Vorstellung, dass KI nicht nur Bewusstsein simuliert, sondern selbst Bewusstsein hervorbringt. als Ersatzreligion zu sprechen, erscheint also durchaus als angemessen.
Technikgläubigkeit als sakrales Element
Der Fortschritts- und Technikgläubigkeit Kurzweils und Moravecs kommt tatsächlich sakraler Charakter zu. So lassen sich Kurzweils Glaube an den exponentiellen Fortschritt, den er Law of accelerating returns nennt,21Vgl. Kurzweil, Singularity, 7f. als fundamentaler Glaubenssatz einer Religion betrachten, die die immerwährende, exponentielle Leistungssteigerung zu ihrer Grundlage gemacht hat. Dieser exponentiellen Beschleunigung wird von Kurzweil und Moravec Verehrung entgegengebracht, da sie vermeintlich alle Probleme der Menschheit zu lösen vermag – und zwar weitaus schneller, als es sich die profanen, in ihrem Weltbild des nur linearen Leistungszuwachses verharrenden Denker vorstellen.
Diese Fortschrittsgläubigkeit nimmt bisweilen radikale Züge an, wenn etwa von der Überwindung momentan bestehender physikalischer Grenzen und der Beschleunigung (!) der Lichtgeschwindigkeit die Rede ist22Vgl. Kurzweil, Singularity, 139f. oder zur weiteren Beschleunigung technischer Prozesse auf das Konzept von Zeitmaschinen zurückgegriffen wird.23Vgl. ebd., 140f.
Gott, Transzendenz und ewiges Leben
Die erklärte Vision Schmidhubers, Kurzweils und Moravecs ist die Überwindung der menschlichen Biologie durch Technologie. Diese Transzendenz wird allein durch den Menschen und seine technischen Bemühungen erreicht und kommt ohne Gott aus – der Mensch setzt sich durch seine Selbst-Transzendenz also an die Stelle Gottes und Transzendenz findet innerhalb der Grenzen unseres Universums statt. Die Technologie wird laut Kurzweil und Moravec zu einem detaillierten Verständnis des Gehirns und damit unseres Geistes führen, den wir mithilfe von Software nachprogrammieren können. Scan und Backup unserer eigenen Nervensysteme werden den Tod überwinden – als körperlose Geister auf Maschinen könnten wir ihnen zufolge effektiv unendlich weiterleben.24Vgl. Kurzweil, Singularity, 323.
Nach Kurzweil erschaffen wir selbst mithilfe des technischen Fortschritts Gott, nämlich dann, wenn sich intelligente Technologie im gesamten Universum ausgebreitet hat und der ganze Kosmos zu einem einzigen künstlichen Riesengehirn verschmolzen ist. Weil Kurzweil das Universum mit Gott identifiziert, wird Gott in dem Maße bewusst, in dem das Universum mit Bewusstsein gefüllt wird.25Vgl. ebd., 29. Dies stellt gewissermaßen eine Umkehrung des klassischen Schöpfungsgedankens dar.
Eine vergleichbare Umkehrung nimmt Moravec vor, wenn er sich explizit auf Teilhard de Chardin beruft und den Status einer das gesamte Universum umfassenden künstlichen Intelligenz Punkt Omega nennt, dessen ursprüngliche Bedeutung aber ins Gegenteil verkehrt.26Vgl. Moravec, Robot, 202. Während Teilhard de Chardin den Omegapunkt mit Christus identifiziert und ihn dadurch explizit personal denkt, vertritt Moravec eine apersonale Auffassung, weil er als „physikalischer Fundamentalist“ an kein personales Urprinzip glaubt.27Vgl. ebd., 191. Eine Transzendenz wie bei Teilhard de Chardin, bei dem der Omegapunkt als Urprinzip, auf das hin sich die Schöpfung ausrichtet, vor der Schöpfung liegt, gibt es bei Moravec nicht: Seine „Transzendenz“ bleibt wie bei Kurzweil auf die Grenzen des Universums beschränkt.
Fundamentalismus
Weil Kurzweil der Meinung ist, dass technologischer Fortschritt alle menschlichen Probleme zu lösen in der Lage ist, sieht er schon in kleinen Verzögerungen der technischen Entwicklung eine große Gefahr, die Millionen Menschen zu weiterem Leiden oder sogar zum Tod verdammen könnte. Kulturellen und ethischen Bedenken gegenüber technologischem Fortschritt erteilt er damit eine grundsätzliche Absage:
„[T]he reflexive, thoughtless antitechnology sentiments increasingly being voiced in the world today do have the potential to exacerbate a lot of suffering.“28Vgl. Kurzweil, Singularity, 373f.
Die Versprechen der Singularität müssen demnach also möglichst bald eingelöst, technologischer Fortschritt muss so schnell wie möglich erreicht werden – Kritik daran ist für Kurzweil unzulässig, weil sie letztlich zu menschlichem Leid führt.
Moravec bezeichnet sich selbst als Fundamentalisten, genauer gesagt, als „physikalischen Fundamentalisten“.29Vgl. Moravec, Robot, 191. Er sieht die Physik als „einzigen rechtmäßigen Anwärter auf den Titel der wahren Erkenntnis“ und spricht sämtlichen anderen Glaubenssystemen ihren Wahrheitsanspruch ab. Diese seien lediglich „erfundene Geschichten“, die vielleicht noch einen sozialen Nutzen für ihre jeweiligen Anhänger hätten.30Vgl. ebd. Wer rational ist, verlässt sich laut Moravec auf die Naturwissenschaft, und zwar nur auf sie. Die Begründung, warum dieser offenkundige physikalische Fundamentalismus rationaler sein soll als der Glaube an eine Religion, bleibt Moravec seinen Lesern jedoch schuldig.31Vgl. auch Böhme, Die technische Form Gottes: „Es [Cyberpropheten wie Moravec] sind religiöse Fundamentalisten, welche die Verkettung der menschlichen Geschichte mit den biologisch-evolutionären Bedingungen aufzulösen sich sehnen. Es sind wilde Transzendenz-Sehnsüchte. Der Schrotthaufen Erde und der Madensack des menschlichen Leibes sind das Opfer, das dem Ausstieg aus der Bio-Evolution um so leichter gebracht werden kann, als Erde und Leib mit dem Stigma der Heillosigkeit belegt sind.“
Ein Beispiel für die Auswirkungen dieses technischen Fundamentalismus gibt die evangelische Theologin und Informatikerin Anne Foerst. Sie beschreibt die Reaktionen einiger renommierter KI-Wissenschaftler auf ihren Vorschlag im Jahr 1996, am Massachusetts Institute of Technology ein Seminar zum Thema „Gott und Computer“ anzubieten. Marvin Minsky etwa war strikt gegen dieses Seminar, welches er als ein „evangelikales Unternehmen“ bezeichnete. Ein Student verstand die Klasse als „Indoktrination“, ein Doktorand beschuldigte sie, „an dem Set kollektiver Pathologien zu leiden, die als religiöser Glaube bekannt sind“.32Vgl. Foerst, Von Robotern, Mensch und Gott, Künstliche Intelligenz und die existenzielle Dimension des Lebens, Göttingen 2008, 54-56. Am MIT, dem Bollwerk der Objektivität und Rationalität, sollten „psychologisch so irregeleitet[e]“ Leute wie Theologen keine Seminare abhalten. Foerst bezeichnet es als Ironie, „dass so viele hochintelligente Menschen in ihrer Zurückweisung von Religiosität derart religiös sein können.“33Ebd.
Science Transcending Religion?
Analog zu dem Versuch, mithilfe technologischer Entwicklungen die Beschränkungen des menschlichen Körpers zu überwinden und so die menschliche Biologie zu „transzendieren“, betreiben wissenschaftsgläubige Forscher wie Schmidhuber, Kurzweil und Moravec die Ersetzung religiöser durch vermeintlich wissenschaftliche Glaubenssätze – vermutlich ohne zu wissen, in welchem Ausmaß sie dabei selbst Religion betreiben. Der Physiker und Philosoph Klaus Kornwachs unterstellt diesen KI-Forschern ein metaphysisches Defizit, wenn sie in ihrem Optimierungsdenken eine Erlösung des Menschengeschlechts sehen. „[So] spielen sie mit einem Surrogat von Heilsgeschichte, meist ohne den theologischen Hintergrund überhaupt nur zu kennen.“34Kornwachs, Prothese, Diener, Ebenbild, 406.
Joseph Weizenbaum beschreibt die Ersatzreligion Naturwissenschaft sehr bildlich:
„Ich glaube wirklich, dass die Naturwissenschaft […] heute alle Merkmale einer organisierten Religion hat. Da gibt es Novizen, das sind die Studenten an den Universitäten. Da gibt es Priester, das sind die jungen Professoren, dann gibt es die Monsignori, das sind die älteren. Es gibt Bischöfe und Kardinäle. Es gibt Kirchen und es gibt Kathedralen. Meine eigene Universität, das Massachusetts Institute of Technology, ist eine Kathedrale innerhalb der Naturwissenschaft. Es gibt sogar Päpste und – und das ist sehr wichtig – es gibt Häretiker! Die Häretiker der Naturwissenschaft werden bestraft, genauso wie die Häretiker einer alten Religion: Sie werden ausgestoßen.“35Weizenbaum, Joseph, Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft (mit Gunna Wendt), Freiburg i. Br. 2006, 166f.
Die Gottmaschine
Der katholische Theologe und Philosoph Hans-Dieter Mutschler sieht einen fundamentalen Wandel im Technikverständnis seit der industriellen Revolution. Während Technik vor der industriellen Revolution immer Handwerkstechnik war und dadurch bedingt vergleichsweise ineffizient und störanfällig, verschiebt die moderne, hocheffiziente Technik die Grenzen der Natur immer weiter.36Vgl. Mutschler, Hans-Dieter, Die Gottmaschine, Das Schicksal Gottes im Zeitalter der Technik, Augsburg 1998, 109-116.
Darin sieht Mutschler den heute oft wahrgenommenen Gegensatz zwischen Technik und Religion begründet.37Vgl. ebd., 36f. Die vorindustrielle Technik war in ihrer Funktionalität von der Natur stark abhängig und entsprach damit dem religiösen Modus des Empfangens. Die moderne Technik emanzipiert sich hingegen von der Natur; ein religiöser Grundakt ist hier nicht mehr notwendig. Deshalb wurde die moderne Naturwissenschaft mehr und mehr zu einer Berufungsinstanz des Atheismus.38Vgl. ebd., 222f.
Im gleichen Maße, wie Technik und Naturwissenschaft die Religion verdrängen, werden sie allerdings selbst zur Ersatzreligion: Im 19. Jahrhundert baute man Bahnhöfe nach dem Bild antiker Tempel oder Kirchen.39Vgl. ebd., 38. Die Elektrizitätswerke warben zur gleichen Zeit mit Plakaten für die neue Energieform, auf denen der Gott Helios auf einem Generator thronend dargestellt wurde.40Vgl. ebd., 56. Carl Benz’ Motivation für die Erfindung des Automobils war die „Befreiung des Menschen“ – ein geradezu religiöses Motiv.41Vgl. ebd., 23. Der Erfinder der Raketentechnik, Hermann von Oberth, schrieb nebenbei phantastische Literatur, in der er sich selbst als Religionsstifter darstellte.42Vgl. ebd., 40.
Eine ganz ähnliche Divinisierung der Technologie findet laut Mutschler heute im Bereich der Computertechnik statt. Er zieht einen direkten Vergleich zwischen der uns heute skurril erscheinenden Vergöttlichung von Dampf und Elektrizität und den Thesen von KI-Forschern wie Minsky und Moravec. Obwohl es mittlerweile gründliche wissenschaftliche und philosophische Literatur gebe, die bezweifelt, dass Computer jemals in der Lage sein werden, alle Leistungen des Menschen zu simulieren, hielten Reduktionisten wie Minsky und Moravec quasi-religiös an ihren Thesen fest und blieben auf ihren Kongressen meist unter sich, ohne den Dialog mit der Philosophie zu suchen. Heute sei es der Cyberspace, der religiöse Kategorien evoziere: Die Schöpfer künstlicher Welten setzten sich an die Stelle Gottes und seien selbst Herren über Unendlichkeit, Sein und Nichtsein.43Vgl. ebd., 81-103 sowie 244.
Der vermeintliche Gegensatz zwischen Religion und Technik existiert Mutschler zufolge also nicht, denn neue Technologien waren seit der industriellen Revolution von einer Form der Kryptoreligiosität begleitet. Die Sehnsucht zur Überschreitung aller Grenzen sei ein menschliches Charakteristikum, das, wenn es sich nicht mehr religiös ausdrücke, eben auf andere Weise zum Ausdruck komme.44Vgl. ebd., 244f.
Mutschler prophezeit, dass auch die Phase der Divinisierung von Computertechnologie irgendwann ein Ende finden wird. Er plädiert für eine neue, weit nüchternere Einstellung zur Technik, die Mittel zu endlichen Zwecken sein sollte und keine religiösen Inhalte transportiert.45Vgl. ebd., 246f.
Fazit
Es geht diesem Text nicht darum, KI als Technologie zu verteufeln oder ihren Nutzen grundsätzlich in Frage zu stellen: KI prägt bereits heute unseren Alltag und und erleichtert unser Leben auf vielfältige Weise. Gleichzeitig beherrschen, medial verstärkt, im gegenwärtigen Hype um KI übersteigerte Erwartungen an die Technologie die Diskussion. Wie Mutschler darlegt, ist das kein neues Phänomen: Die jeweils höchstentwickelten Technologien werden schon seit Jahrhunderten religiös überhöht.
Angesichts der Bedeutung von KI für Entscheidungsprozesse mit teilweise fatalen Auswirkungen für Mensch und Umwelt ist jedoch ein kritisches Bewusstsein für die Technologie und ihre Fähigkeiten, vor allem jedoch für ihre Grenzen, nötiger denn je. Daher muss klar benannt werden, wenn auf ihrem Gebiet renommierte Personen wie Schmidhuber, Kurzweil oder Moravec unter dem Mantel einer vermeintlichen Wissenschaftlichkeit Science Fiction und Ersatzreligion betreiben. Geradezu prophetisch warnte Joseph Weizenbaum bereits 1972:
„Der meiste Schaden, den der Computer potentiell zur Folge haben könnte, hängt weniger davon ab, was der Computer tatsächlich machen kann oder nicht kann, als vielmehr von den Eigenschaften, die das Publikum dem Computer zuschreibt. Der Nichtfachmann hat überhaupt keine andere Wahl, als dem Computer die Eigenschaften zuzuordnen, die durch die von der Presse verstärkte Propaganda der Computergemeinschaft zu ihm dringen. Daher hat der Informatiker die enorme Verantwortung, in seinen Ansprüchen bescheiden zu sein.“46Vgl. Weizenbaum, Albtraum Computer, Ist das menschliche Gehirn nur eine Maschine aus Fleisch? In: Die Zeit 27 (1972) Nr. 3 v. 21. Januar 1972, 43.
Hinweis: Teile dieses Textes basieren auf meiner am 18. Juni 2014 an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn eingereichten Magisterarbeit „Künstliche Intelligenz als Herausforderung für die Zukunft. Theologische und ethisch-moralische Reflexionen.“ Eine englische Version der Arbeit findet sich auf meiner Webseite zum Download.
- 1Vgl. Schmidhuber, Jürgen, Interview v. 5./6. August 2023, in: Süddeutsche Zeitung 79 (2023) Nr. 179, 17.
- 2Vgl. Moravec, Hans P., Robot. Mere Machine to Transcendent Mind, New York 1999.
- 3Vgl. Kurzweil, Ray, The Singularity Is Near. When Humans Transcend Biology, New York 2005.
- 4Vgl. Kurzweil, Singularity, 1: „We would spend six months studying one religion – going to its services, reading its books, having dialogues with its leaders – and then move on to the next. The theme was ‘many paths to the truth’.“ sowie Moravec, Robot, 191: „Other belief systems may have social utility for the groups that practice them, but ultimately they are just made-up stories. I myself am partial to such ‘physical fundamentalism.’“ sowie Schmidhuber, In the beginning was code, Vortrag v. 10. November 2012, zu finden unter: https://www.thekurzweillibrary.com/in-the-beginning-was-the-code, abgerufen am 26. August 2023.
- 5Vgl. Kurzweil, Singularity, 22f.
- 6Vgl. Schmidhuber, Interview.
- 7Vgl. Moravec, Robot, 202.
- 8Vgl. Schmidhuber, Interview sowie Kurzweil, Singularity, 17.
- 9Schmidhuber, Interview.
- 10Vgl. Kurzweil, Singularity, 29.
- 11Vgl. ebd., 390: „We can consider God to be the universe. […] The universe is not conscious – yet. But it will be“.
- 12Vgl. Teilhard de Chardin, Pierre, Der Mensch im Kosmos, München 71964, 250-267.
- 13Vgl. ebd., 251.
- 14Vgl. Feil, Ernst, Religion I, in: Betz, Hans Dieter u.a. (Hg.), Religion in Geschichte und Gegenwart4. Bd. 7 R–S, Tübingen 2004, 263-267, 264.
- 15Vgl. ebd., 265.
- 16Vgl. ebd., 264.
- 17Vgl. Bürkle, Horst, Religion. III. Religionswissenschaftlich, in: Kasper, Walter u.a. (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche3, Vol. 8 Pearson–Samuel, Freiburg i. Br. 1999, 1039-1041, 1040.
- 18Vgl. Kornwachs, Klaus, Prothese, Diener, Ebenbild. Warum sollen wir denkende Maschinen bauen? In: Herder Korrespondenz 56 (2002) 402-407, 406.
- 19Böhme, Hartmut, Die technische Form Gottes. Über die theologischen Implikationen von Cyberspace, in: Neue Zürcher Zeitung 217 (1996) No. 86, 13/14 April 1996, 53.
- 20„Starke KI“ bezeichnet – im Gegensatz zu „schwacher KI“ – die Vorstellung, dass KI nicht nur Bewusstsein simuliert, sondern selbst Bewusstsein hervorbringt.
- 21Vgl. Kurzweil, Singularity, 7f.
- 22Vgl. Kurzweil, Singularity, 139f.
- 23Vgl. ebd., 140f.
- 24Vgl. Kurzweil, Singularity, 323.
- 25Vgl. ebd., 29.
- 26Vgl. Moravec, Robot, 202.
- 27Vgl. ebd., 191.
- 28Vgl. Kurzweil, Singularity, 373f.
- 29Vgl. Moravec, Robot, 191.
- 30Vgl. ebd.
- 31Vgl. auch Böhme, Die technische Form Gottes: „Es [Cyberpropheten wie Moravec] sind religiöse Fundamentalisten, welche die Verkettung der menschlichen Geschichte mit den biologisch-evolutionären Bedingungen aufzulösen sich sehnen. Es sind wilde Transzendenz-Sehnsüchte. Der Schrotthaufen Erde und der Madensack des menschlichen Leibes sind das Opfer, das dem Ausstieg aus der Bio-Evolution um so leichter gebracht werden kann, als Erde und Leib mit dem Stigma der Heillosigkeit belegt sind.“
- 32Vgl. Foerst, Von Robotern, Mensch und Gott, Künstliche Intelligenz und die existenzielle Dimension des Lebens, Göttingen 2008, 54-56.
- 33Ebd.
- 34Kornwachs, Prothese, Diener, Ebenbild, 406.
- 35Weizenbaum, Joseph, Wo sind sie, die Inseln der Vernunft im Cyberstrom? Auswege aus der programmierten Gesellschaft (mit Gunna Wendt), Freiburg i. Br. 2006, 166f.
- 36Vgl. Mutschler, Hans-Dieter, Die Gottmaschine, Das Schicksal Gottes im Zeitalter der Technik, Augsburg 1998, 109-116.
- 37Vgl. ebd., 36f.
- 38Vgl. ebd., 222f.
- 39Vgl. ebd., 38.
- 40Vgl. ebd., 56.
- 41Vgl. ebd., 23.
- 42Vgl. ebd., 40.
- 43Vgl. ebd., 81-103 sowie 244.
- 44Vgl. ebd., 244f.
- 45Vgl. ebd., 246f.
- 46Vgl. Weizenbaum, Albtraum Computer, Ist das menschliche Gehirn nur eine Maschine aus Fleisch? In: Die Zeit 27 (1972) Nr. 3 v. 21. Januar 1972, 43.